Mittwoch, 16. Mai 2007

Auswahlverfahren: Wir backen uns eine Elite

Das neue Auswahlverfahren erzeugt breiten Unmut, der nur deshalb nicht überschwappt, weil es die jetzt Studierenden nicht mehr betrifft. Andere Stimmen finden es gar nicht schlecht und fragen: "Warum sollen Studienplätze nicht nach der Qualität der Bewerber vergeben werden?" Darauf wollen wir gerne antworten.

Von Qualität kann ich nur angesichts einer Ware sprechen. Dem Menschen wird ein Wert zugewiesen. Dieser Wert bemisst sich sich nach seiner Fähigkeit, im System bzw. zu funktionieren und Spitzenleistungen zu erbringen. Wir halten diese Sicht für inhuman. Dass die Universität Leuphana sich auf ihrer Webseite als "humanistisch" bezeichnet, ist vor diesem Hintergrund nur noch zynisch.

Sascha Spoun bezeichnet Bildung als Privileg. Privilegien werden gewährt und sind kein Recht, das jeder Bürger hat. Privilegien sind immer etwas, von dem die nicht Privilegierten bewusst ausgeschlossen werden sollen. Wenn der Hochschulzugang zum Privileg umgewidmet wird, wird der Ungleichheit in der Gesellschaft Vorschub geleistet. Auf diese Weise erzeugt man eine Unterschicht bzw. eine Elite. Das dahinterstehende Weltbild ist aristrokratisch und antidemokratisch. Das steht in völligem Widerspruch zu den von den Vereinten Nationen deklarieten Menschenrechten:
Art. 26: (...) Der Hochschulunterricht muß allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen.
Natürlich können nicht alle studieren. Für viele Menschen wäre ein Studium auch eine Zumutung und Überforderung. Für andere ist es ein Lebenstraum. Unsere Großeltern und Eltern haben enorme Anstrengungen unternommen, um nachfolgenden Generationen ein Studium zu ermöglichen, das zuvor nur einer kleinen Elite offenstand. Der gesellschaftliche Fortschritt, der erzielt wurde, wird nun gedankenlos wieder zerstört. Und das in Zeiten, in denen allgemein beklagt wird, dass es in Deutschland zu wenige Akademiker gibt.

Besonderes Augenmerkt gilt für die Aussage "entsprechend ihrer Fähigkeiten". Zur Feststellung der Studierfähigkeit gibt es die Allgemeine Hochschulreife oder die fachgebundene Hochschulreife. Wo nicht alle Studierenden zugelassen werden können, werden die besten anhand des Numerus Clausus ausgewählt. Der NC mag für viele Einzelschicksale unfair sein. Kann das ein Argument dafür sein, ihn durch etwas noch unfaireres zu ersetzen? In einigen Studiengängen hat man das erkannt: So wird für angehende Mediziner ein besonderer Test verlangt, während man Kunst, Musik und Design sogar ganz ohne Abitur studieren kann, aber das nötige Talent nachweisen muss. Nichts spricht dagegen, für konkrete Studiengänge bestimmte Auswahlkriterien einzuführen.

ABER: An der Universität Leuphana gelten die Kriterien nicht fachgebunden für einzelne Studiengänge sondern (mit kleinen Ausnahmen) für das ganze College. Das Hauptkriterium ist die Abitnurnote, es bleibt also im Kern bei einem NC, welcher durch Nebenkriterien ergänzt wird. Von den 13 Kritierien beziehen sich ganze 4 auf die Studierfähigkeit: Studienrelevanter Auslandsaufenthalt, Preisträger bei Jugend forscht, Begabtenstipendium, Fremdsprachenkenntnisse. Von diesen ist zumindest der Auslandsaufenthalt noch mit Vorsicht zu genießen, weil sich sehr viele Abiturienten eine solche Reise finanziell gar nicht leisten können. Denkt einfach mal zurück an Eure Oberstufenzeit: Wie hoch war der Anteil der Schüler, die z.B. Austauschjahr im Ausland gemacht haben? Wie hoch der Anteil der Schüler, deren Eltern das nicht bezahlten konnten?

Damit sind wir beim zweiten Auswahlkriterium, der sozialen Selektion. Allzu früh Vorstandsmitglied eines Unternehmens dürfte vor allem derjenige werden, dessen Eltern ein solches Unternehmen gehört. Alles andere sind extrem seltene Ausnahmen. Und zur Gründung eines eigenen Unternehmens genügt es eben nicht, dass ein begnatetes Programmiertalent eine kleine Firma gründet; ein Handelsregistereintrag soll es sein! Woher nimmt man das für eine GmbH nötige Eigenkapital von 25000 €? Die Teilnahme an Wettbewerben wie "Jugend forscht" oder eine sportliche Karriere bis in die Olympia-Mannschaft ist ebenfalls stark erschwert, wenn dem Elternhaus der finanzielle Hintergrund fehlt. Profisportler können in den wenigsten Sportarten von ihrem Sport leben, von ganz wenigen Spitzensportlern abgesehen. Eine politische Karriere in einem Parlament dürfte sozial schwachen Schülern äußerst schwierig fallen, da die hierfür notwendigen Seilschaften meist nur in Familien der sozialen Oberschicht zur Verfügung stehen. Von den 13 Kritierien dienen also 8 direkt oder indirekt der sozialen Auslese. Dabei ist noch nicht mitgerechnet, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten es bei gleicher Intelligenz wesentlich schwerer haben, z.B. an ein Stipendium der Begabtenförderung zu kommen oder besondere Fremdsprachenkenntnisse zu erlangen. Auch solche Kriterien sind typisch für wohl siturierte Elternhäuser. Eigentlich sind es also fast alle Kritierien, die sozial schwache Bewerber abdrängen.

Besonders honoriert werden soll soziales Engagement. Ist das wirklich so? Bonuspunkte erhält, wer ein freiwilliges soziales/ökologisches/kulturelles Jahr absolviert, wer Schulsprecher war oder im Stadtradt/Landtag/Bundestag saß. Sicher, ein "freiwilliges Jahr" oder eine Schulsprechertätigkeit stehen auch sozial schwachen offen. Was ist mit einem Bewerber, der seine Angehörigen zuhause pflegt, sich im Tierheim engagiert, Zivildienst in einem Pflegeheim gemacht hat, eigene Kinder in die Welt gesetzt hat, sich in der (Kommunal-)politik jenseits der Parlamente (z.B. in den ganzen Beiräten) engagiert, die Schülerzeitung mit gestaltet hat, als Aufseher in Jungendferienlagern mitgeholfen hat, sich im kirchlichen Bereich, dem Roten Kreuz, Feuerwehr, Rotary Club oder einer Partei engagiert hat oder bei Greenpeace, BUND, Attac usw. usw. usw? Diese Liste ließe sich noch sehr weit verlängern. Die Auswahl der Bonuspunkte zeigt unserer Meinung nach, dass es dem Präsidium/Senat eben nicht darum geht, gesellschaftliches Engagement zu honorieren, sondern nur Engagement in Bereichen, die üblicherweise nur einer sozialen Oberschicht offenstehen.

Bevorzugt wird, wer vor dem Studium eine Ausbildung absolviert hat. Das ist das einzige Kriterium, das sozial schwache Bewerber fördert, weil viele wegen der knappen Finanzlage der Eltern zunächst auf ein Studium verzichten. Hauptschüler bekommen heute oft nur noch unter schwierigsten Bedingungen einen Ausbildungsplatz. Selbst Realschüler haben große Schwierigkeiten, da in vielen Berufen nur noch Abiturienten genommen werden. Diese Abiturienten verschärfen also die Lage auf dem Arbeitsmarkt für weniger qualifizierte, wenn sie nach ihrer Ausbildung sowieso studieren gehen. Selbstverständlich wollen wir niemanden die persönliche Entscheidung, zunächst eine Ausbildung zu machen, vorwerfen. Die Entwicklung sollte aber nicht noch durch die Vergabe von Bonuspunkten verstärkt werden.

Fassen wir zusammen:
  • Von 13 Nebenkriterien dienen nur 4 der Feststellung der Studierfähigkeit
  • Mindestens 8 Kriterien dienen der sozialen Ausgrenzung
  • 3 weitere Kriterien wirken ebenfalls in bildungsfernen Schichten sozial ausgrenzend
  • 11 Kriterien unterstützen Bewerber aus der sozialen Oberschicht, trotz schlechtem Abi einen Studienplatz zu ergattern
  • Nur 1 Kriterium fördert sozial Schwache, nicht ohne den Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt zu verschärfen
Die besten kommen durch. Alle anderen müssen einen Test vor Ort machen. Das halten wir für eine völlig unangemessene Entwertung des Abiturs. Bei diesen Test zählt die Fähigkeit, Leistung unter Druck zu erbringen (Schriftlicher Test). Ein solcher Test sagt wenig über die tatsächliche Intelligenz aus, z.B. weil manche Menschen langsamer aber dafür gründlicher denken als andere. Außerdem finden persönliche Auswahlgespräche statt. Optimisten hoffen, dass sie dazu dienen, Bewerber reinzulotsen, die unverdient schlecht abgeschnitten haben. Pessimisten sehen darin nur einen Test auf Stallgeruch. Es gibt zahllose Studien, die die Wirkungslosigkeit solcher Gespräche belegen. Getestet werden im Grunde Auftreten und Eloquenz und Gesinnung.

Man stelle sich vor, alle Universitäten würden so verfahren und Du hast ein mittelmäßiges Abi ohne besonderes "Highlights": Du müsstest dich sicherheitshalber an 5-10 Hochschulen bewerben. Alle diese Hochschulen wollen 30 € Eintritt. Außerdem brauchst Du eine Fahrkahrte (zwischen 0 und 150 € je nach Entfernung) und ggf. zwei Übernachtungen in einer Jugendherberge (40 €). 5 Bewerbungen an Hochschulen würden demnach außer sehr viel Zeit 1500 € kosten. Wir bezweifeln, dass beispielsweise die Arbeitsagentur diese Kosten für Kinder von Hartz-IV-Empfängern übernimmt.

Was genau ist eigentlich der Sinn dieses Auswahlverfahrens? Wenn jeder, der Abitur hat, studieren kann, können sich die Unternehmen ihre Bewerber doch aussuchen: Nach Studiengang, Lebenslauf, Engagement ...und Universität! Der einzige plausible Grund ist, dass die Uni sich als Eliteanstalt profilieren möchte. Gesucht wird angepasstes McKinseyfutter, aber keine eigenwilligen Querdenker und Kreative, vor allem keine "Normalos". Bevorzugt werden Bewerber aus sozial hochgestellten Familien.

Wir befürchten, dass das keine Kandidaten sind, die hier in Lüneburg interessante Dinge auf die Beine stellen, vielleicht später bleiben und die städtische Kultur bereichern, sondern vor allem welche, die sich mit Hochdruck in ihr Studium stürzen, um anschließend für die internationale Konzernkarriere wieder aus der Stadt zu verschwinden. Die Universität Lüneburg und die Stadt Lüneburg werden nicht mehr dieselbe sein, wenn erst einmal ein paar Jahre mit dieser Auswahl ins Land gegangen sind...

Selbst wem das alles egal ist, wen die sozialen und moralischen Dimensionen einer solchen Auslese nicht nicht stören, sollte sich streng ökonomisch fragen: Können wir uns eine derartige Ausgrenzung von Talenten erlauben?

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Das neue Auswahlverfahren is echt reichlich unsinnig (speziell viele dieser Kriterien), aber das ganze gleich wieder auf die "sozialstarken Kapitalisten" zu schieben:

"Die Teilnahme an Wettbewerben wie "Jugend forscht" oder eine sportliche Karriere bis in die Olympia-Mannschaft ist ebenfalls stark erschwert, wenn dem Elternhaus der finanzielle Hintergrund fehlt."

Keine Ahnung, wer sich so einen Murks zusammenreimt...

Örm, gibbets net irgendwie die Möglichkeit, solche Vorschläge

"Was ist mit einem Bewerber, der seine Angehörigen zuhause pflegt, sich im Tierheim engagiert, Zivildienst in einem Pflegeheim gemacht hat, eigene Kinder in die Welt gesetzt hat, sich in der (Kommunal-)politik jenseits der Parlamente (z.B. in den ganzen Beiräten) engagiert, die Schülerzeitung mit gestaltet hat, als Aufseher in Jungendferienlagern mitgeholfen hat, sich im kirchlichen Bereich, dem Roten Kreuz, Feuerwehr, Rotary Club oder einer Partei engagiert hat oder bei Greenpeace, BUND, Attac"

einfach mal ans Präsidium weiterzuleiten? Bzw. evtl. werden diese Kriterien AUCH angewandt, sie wurden jedoch nicht in die Auflistung reingenommen, weil das nur Beispiele waren. Nuja, bin jedenfalls auch mal sehr gespannt, wie das ablaufen wird...

Anonym hat gesagt…

Hallo Christian, Hi Folx,

zum Zusammenhang zwischen sozialem Background und der Teilnahme an z.B. "Jugend forscht" habe ich leider keine Daten griffbereit, nur einen deutlichen Verdacht, den ich aus den Ergebnissen der PISA-Studie ableite... mal sehen, ob sich dazu empirische Daten auftreiben lassen (Es geht mir nicht nur um die Ausstattung mit ökonomischem, sondern auch mit sozialem, kulturellem und sozialem Kapital, siehe Bourdieu).

Und es tut mir leid, dich erneut enttäuschen zu müssen, aber die Idee, BewerberInnen, die Angehörigen zuhause pflegen, sich im Tierheim engagieren, [..] Attac usw., ebenfalls mit Bonuspunkten für die Bewerbung zu belohnen, habe ich bereits explizit in der Senatssitzung vorgeschlagen, diese Idee wurde explizit abgelehnt. Begründung: Ist zu schwer nachzuweisen, würde das I-amt zu stark belasten.
Ich habe auch Augenzeugen, schließlich habe ich den gesamten Senat bei diesem Top mal wieder sehr genervt...

Ich zitiere hierzu mal den Entwurf der neuen Ziel- und Leistungsvereinbarungen zwischen Uni und MWK: "Die Zulassung zum College soll künftig an den Erfahrungen der deutschen Begabungsförderungsinstitutionen
orientiert werden und den Anforderungen an ein arbeitsintensives Studium Rechnung tragen. In einem gestuften Verfahren wird (1) die Note der Hochschulzugangsberechtigung durch weitere Zulassungskriterien ergänzt, also um eine Anerkennung besonderer außerschulischer Leistungen oder einer Berufsausbildung."


Tja.
Nichts gegen Begabtenförderung (ich hätte auch gerne eine bekommen), aber was machen wir dann mit den restlichen 95% der Studienplätze?

Anonym hat gesagt…

Lese gerade einen äußerst interessanten Artikel bei Spiegel Online:
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,482849,00.html

Dort geht es nicht um die Abitur-Note, sondern um die Note des Studienabschlusses, wo es in vielen Unis/Fächern Einsen regnet und daher von den Personalchefs Hilfskriterien benutzt werden müssen, was mit der neuen Auswahl hier an der Uni vergleichbar ist.

Zitat: Axel Plünnecke, Bildungsökonom beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln, argumentiert: "Wenn die Note entwertet wird und stattdessen Praktika, Auslandsaufenthalte und außeruniversitäres Engagement in den Vordergrund treten, werden Kinder aus ärmeren Familien benachteiligt." Solche Zusatzqualifikationen, sagt Plünnecke, hingen auch "von den finanziellen Möglichkeiten und den Kontakten einer Familie ab". Die Einser-Flut sei deshalb in der Konsequenz diskriminierend und unsozial.

Und: Hell hat den Zusammenhang zwischen Abitur-Durchschnittsnote und späterem Studienerfolg untersucht und festgestellt: Kein anderes Kriterium sagt so zuverlässig voraus, ob jemand sein Studium gut meistert, wie die abschließende Schulzensur.